Dieser Post ist Teil einer wöchentlich erscheinenden Serie. Jeden Freitag sende ich einen Kommentar zur Tech Szene in den USA an über 200 Abonnenten. Trag deine Mail hier ein, um mit dabei zu sein:
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Das heutige Thema ist etwas schwieriger, Stoff - wie immer, wenn man über Moral oder ihre Abwesenheit schreibt. Damit nicht der gesamte Newsletter so schwer wiegt, starten wir mit einem kurzen Blick auf eine neue Technologie, die Google diese Woche vorgestellt hat: Project Starline. Ein schönes Beispiel dafür, wie aus Science Fiction immer öfter Science Fact wird:
Und bevor es losgeht noch ein Mini-Werbeblock in eigener Sache. Du kannst diesen Newsletter auch ganz einfach auf dem Kindle lesen. Mit Readbetter.io hab ich mir selbst ein kleines Tool gebaut, das genau das möglich macht und stelle es gratis zur Verfügung:
Viel Spaß beim Lesen!
Apple und die Moral
Im Trubel um Google’s und Facebook’s Datenschutzprobleme, und Amazon’s Steuerpraktiken wirkte Apple für viele oft wie der weiße Ritter unter den Big Tech Firmen. Doch auch Apple gerät derzeit immer öfter in den Fokus von Kritik. Es geht dabei um eine Vielzahl verschiedener Themen. Zwei davon bewegen die Tech Szene gerade besonders: Cancel Culture und China.
Beiden möchte ich mich in diesem Newsletter widmen - heute starten wir mit Cancel Culture, ein Thema, dass unlängst auch in Deutschland angekommen ist (siehe Causa Lehmann/Aogo/Palmer…). Auch ich habe das Ganze ja schon einmal kurz angerissen, als es in diesem Newsletter um das vermeintliche Hype Startup Dispo ging.
Ich wage mich heute mal daran, das Phänomen, mit Bezug zur Tech Welt, etwas genauer zu beleuchten, und meine eigene Meinung dazu zu formulieren. Das fühlt sich gewagt an - vielleicht klappts, oder aber ich werde eben auch gecancelt. Versuchen wir’s mal:
Was ist Cancel Culture? Cancel Culture bezeichnet das in Teilen zum Volkssport gewordene Phänomen, jemanden zu “canceln”. Also dafür zu sorgen, dass er aus der Öffentlichkeit verschwindet, seinen Job und möglichst alle sonstigen Positionen verliert und so weiter. Gefordert und angetrieben wird das canceln meist von einem wütenden Social Media Mob. Dieser bildet dabei die vermeintliche Mehrheitsmeinung ab, ist dabei aber wohl meistens eher einfach nur die lautere als die größere Menge.
Warum werden Menschen gecancelt? Da gibt es ganz unterschiedliche Gründe - meist sind es öffentliche Äußerungen, die rassistische, sexistische oder sonstige diskriminierende Elemente enthalten. Das Problem dabei ist nur: Die Einteilung in diese Kategorien mag einfach klingen, ist aber längst nicht immer so einfach möglich. Das Leben ist eben selten nur schwarz oder weiß.
Und: Alles, auch jede Äußerung hat einen Kontext. Mindestens einen zeitlichen Kontext. Dieser verändert sich, und auch Menschen selbst ändern sich. Das ist gut so - wäre ja sonst auch alles ziemlich langweilig.
Äußerungen ohne den notwendigen Kontext geben oft nur die halbe Wahrheit wieder.
Natürlich ist es falsch, sich rassistisch, sexistisch, misogynistisch oder sonst wie diskriminierend zu äußern oder zu handeln. Und ja, es ist auch richtig, das anzuprangern und ggf. auch zu bestrafen. Das alles steht außer Frage.
Doch eines der höchsten Güter unserer aufgeklärten westlichen Welt ist (oder war) die Fähigkeit zum Dialog, die Bereitschaft echte Entschuldigungen anzunehmen, und die Möglichkeit der “Läuterung”.
All das geht mit Cancel Culture verloren. Ich bin davon überzeugt: Das tut uns als Gesellschaft nicht gut, und das tut auch einer Firmenkultur nicht gut.
Wie das aussehen kann, zeigt ein aktueller Vorfall bei Apple:
Vor einigen Wochen hatte Apple Antonio García Martínez eingestellt, einen in der Tech Szene bekannten Ex-Facebook Produktmanager. Bei Apple sollte er eine leitende Rolle beim Thema Advertising Privacy einnehmen.

Martínez hatte sein Haus in Washington verkauft, war schon nach Kalifornien gezogen, doch bevor sein Job so richtig losging, war es auch schon wieder vorbei und er wurde von Apple gefeuert. In der Begründung heißt es
“Behavior that demeans or discriminates against people for who they are has no place here.”
Was war passiert? Eine Gruppe wütender Mitarbeiter hatte sich intern über die Anstellung von Martínez beschwert. Der Grund: In einem Buch, dass er vor 5 Jahren geschrieben hat, gibt es Passagen, die man als sexistisch oder frauenfeindlich interpretieren kann.
Ich will hier nicht den selben Fehler machen, und die Passagen ohne genügend Kontext des Buchs wiedergeben. Wer sich selbst ein Bild machen möchte findet längere Passagen und Kontext u.a. hier.
Also erst mal kurz eine Einordnung von meiner Seite: Das besagte Buch war ein New York Times Bestseller, in dem Martínez seine Karriere im Silicon Valley und das gesamte Tech Ökosystem des Valleys kritisch auseinandernimmt. Er lässt darin an vielen Stellen kein gutes Haar an der Kultur des Silicon Valley.
Er selbst betont, dass auch wenn es biografisch geschrieben ist, es einen Unterschied zwischen seinem literarischen Selbst und seiner echten Person gibt.
Soviel zum Kontext - in den fraglichen Passagen beschreibt er eine Beziehung mit einer Frau und vergleicht sie dabei mit anderen Frauen im Silicon Valley. Hierbei verallgemeinert er auf abfällige Weise angebliche typische Charakterzüge. Ich finde die entsprechenden Stellen auch ziemlich geschmacklos. Und doch wird im Kontext des gesamten Buchstils meiner Meinung nach klar, dass man daraus nicht eine allgemeine Frauenfeindlichkeit des Autors schließen kann.
Kurz: Ja, die entsprechenden Stellen sind aus meiner Sicht sexistisch und ja, das war auch schon vor fünf Jahren falsch.
Begründet all das aber ein öffentliches Canceln? Den Verlust von Job, Karriere und die mögliche Zerstörung eines Lebens? Ganz sicher nein.
Bei dem Vorfall stört mich (und viele andere), vor allem Vorgehen und Kommunikation von Apple. Denn erstens: Apple wusste sehr wohl, wen sie einstellen. Es geht bei den Aussagen von Martínez ja nicht um eine versteckte Identität, sondern viel mehr um Aussagen, die er in einem bekannten und erfolgreichen Buch getätigt hat. Laut Martínez hat Apple u.a. während des Einstellungsprozess mit Referenzen, die in dem Buch erwähnt werden gesprochen. Und zweitens: In der Begründung schreibt Apple von Behaviour. Dabei hatte Martínez ja nicht mal die Chance Behaviour zu zeigen, geschweige denn, zu den Aussagen Stellung zu beziehen, sich zu erklären oder zu entschuldigen.
Das hat er übrigens mittlerweile getan, und sagt selbst, dass er einige Formulierungen in dem Buch heute bereut. Gut so. Und doch ist auch klar: Wenn jeder von uns immer nur in Vorsicht schreiben und reden würde, so dass sich nie jemand angegriffen fühlen kann, so wäre die Welt eine ziemlich langweilige. Kommunikation ist nicht glatt, in Kommunikation entstehen Fehler. Gerade im Silicon Valley sollte man ob der Wichtigkeit von Fehlern wissen.
Dass man interne Beschwerden ernst nehmen sollte, ist gut und richtig. Dass man nach sorgfältiger Prüfung auch zu dem Schluss kommen kann, dass ein neuer Mitarbeiter doch nicht zur Unternehmenskultur passt, kann richtig sein. Aber gerade dieser sorgfältige Prozess scheint allem Anschein nach nicht stattgefunden zu haben.
Apple hat sich vor einem internen wütenden Mob gebeugt, ohne der betroffenen Person auch nur den Hauch einer Chance zu geben. Das ist scheinheilig und offenbart das hässliche Gesicht der Cancel Culture.
Und übrigens: Wenn Apple es so ernst damit meint, Worte aus alten Texten auf die Goldwaage zu legen, sollten sie vielleicht einmal überdenken, ob Beats by Dr. Dre so gut in’s Firmenportfolio passt.
Nächste Woche folgt dann ein Blick in Apple’s Praktiken in China. Hier scheint Apple es nämlich selbst nicht so eng mit der Moral zu nehmen. Als Abonnent erhälst du die nächste Ausgabe automatisch - und natürlich ist das ganze gratis:
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Beste Grüße und bis nächste Woche!
Robbie
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Jeden Freitag schicke ich einen Kommentar zur US Tech Szene an über 200 Abonnenten. In den letzten Wochen habe ich u.a. über das Debakel um Robinhood & Gamestop, NFTs und SpaceX geschrieben.
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